Wenn heute von Antoine de Saint-Exupéry (1900-1944) die Rede ist, denkt jeder zuerst an den 1943 erschienenen kleinen Prinzen. Doch seinen literarischen Ruhm bei seinen Zeitgenossen begründeten seine abenteuerlichen Fliegergeschichten aus der Pionierzeit der zivilen Luftfahrt, in denen er seine eigenen Erlebnisse und die seiner Kameraden als Piloten oder Postenchefs abgelegener Flughäfen in Afrika und Südamerika beschrieb: "Südkurier", "Nachtflug" und "Wind, Sand und Sterne".
Zwei dieser heute fast vergessenen Bücher möchte ich zur Lektüre empfehlen: den Roman „Nachtflug“ von 1931 und „Wind, Sand und Sterne“, eine Sammlung von Erlebnisberichten aus dem Jahr 1939.
„Nachtflug“ – trotz eines Umfangs von gerade einmal 120 Seiten ein ungeheuer dichtes Buch – erzählt die Geschichte des Postfliegers Fabien, der auf einem Nachtflug unterwegs von Patagonien nach Buenos Aires ist, wo das Anschlussflugzeug nach Europa wartet. Obwohl eine gigantische Gewitterfront über Patagonien zieht, lässt sein Pflichtbewusstsein nicht zu, den Flug zu unterbrechen und zu landen. Er weiß: Sein Vorgesetzter Rivière, der Betriebsdirektor der Luftpostlinie, erwartet, dass der Anschluss, koste es, was es wolle (und sei es ein Menschenleben), gehalten wird. Jahrelang hat er um die Einführung von Nachtflügen gekämpft und will um jeden Preis beweisen, dass zuverlässige Nachtflugverbindungen möglich sind. Dennoch ist er – ebenso wie Fabiens Frau – beunruhigt und wartet auf dem Flugfeld in Buenos Aires zunehmend besorgt auf die Ankunft des Flugzeugs. Währenddessen spitzt sich die Lage Fabiens immer mehr zu, die Funkverbindung zu den Bodenstationen bricht ab. Schließlich kann Rivière nur noch schätzen, wie viel Zeit Fabien bleibt, bis sein Treibstoff verbraucht ist und er abstürzt, da an eine Landung wegen des Gewitters nicht zu denken ist. Was mit Fabien geschieht, wird nicht erzählt. Beim Leser bleiben jedoch keine Zweifel, dass der Flug tödlich endet.
Hauptthema des Romans ist die Frage, was wichtiger ist: das Erreichen eines langfristigen Ziels, in diesem Fall die Pünktlichkeit eines Fluges, das Durchführen von Nachtflügen, der Anschluss an das nächste Flugzeug oder ein Menschenleben. Was zählt mehr: die Einhaltung des Flugplans oder das Leben der Flugzeugbesatzung? Für Rivière ist die Antwort auf diese Frage am Anfang klar: Das Erreichen eines Ziels kostet gelegentlich Opfer. Doch im Verlauf der Erzählung kommen ihm zunehmend Zweifel an seiner Einstellung.
Als „Hymnus auf die Fliegerei“ bezeichnet „Kindlers Literaturlexikon“ das Buch „Wind, Sand und Sterne“ von 1939, das im Jahr seines Erscheinens den Grand Prix du Roman der Académie Française erhielt. Anders als bei „Nachtflug“ handelt es sich dabei nicht um einen Roman, sondern um eine Sammlung locker aneinander gereihter Schilderungen eigener Erlebnisse oder von Erlebnissen seiner Kameraden in der Pionierzeit der Postfliegerei, vermischt mit traumartigen Landschaftsschilderungen, Beschreibungen der Naturgewalten, Betrachtungen über das Verhältnis Mensch-Natur, Mensch-Technik, Mensch-Mensch und über die Bestimmung des Menschen.
Kernstück des Buches sind die Kapitel, die seine nordafrikanischen Wüstenüberflüge beschreiben und einen Flug im Jahre 1935, bei dem er ein Preisgeld für die schnellste Bewältigung der Strecke von Paris nach Saigon gewinnen wollte, über der Libyschen Wüste die Orientierung verlor und 200 Kilometer vor Kairo nach einer Bodenberührung eine Bruchlandung hinlegte. Er und sein Bordmechaniker machen sich zu Fuß auf die Suche nach einer Siedlung und werden nach fünf Tagen kurz vor dem Verdursten von Beduinen gerettet.
Saint-Exupérys Bücher lassen sich einfach als spannende Abenteuer aus der Pionierzeit der zivilen Luftfahrt lesen. Es geht in ihnen aber um viel mehr, nämlich um die Frage nach der Bestimmung des Menschen. Deshalb werden auch Leser, die Gefallen an philosophischen Betrachtungen haben, auf ihre Kosten kommen.
Michael Steffel