Berlin: Zsolnay, 1933. - lieferbar u. a. als Hardcover bei Anaconda für 9,95 € und als E-Book für 4,99 €
Der Musa Dagh, ein Berg unweit von Aalens Partnerstadt Antakya, wurde im Sommer 1915 für eine zum Widerstand gegen die Deportation durch die osmanische Regierung entschlossene Gruppe von 4.000 Armeniern mehrere Wochen lang zur Zuflucht, bis sie von französischen Kriegsschiffen gerettet wurden. Franz Werfel hat Anfang der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts den heldenhaften Kampf der Verfolgten und den türkischen Genozid an den Armeniern mit seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ wieder ins Bewusstsein der Europäer gerufen.
In einem kurzen Vorwort zu diesem monumentalen zeitgeschichtlichen Epos schrieb Franz Werfel 1933:
Dieses Werk wurde im März des Jahres 1929 bei einem Aufenthalt in Damaskus entworfen. Das Jammerbild verstümmelter und verhungerter Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten, gab den entscheidenden Anstoß, das unfaßbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen.
Ausführlicher berichtete später seine Frau, Alma Mahler-Werfel, in ihrem Erinnerungsbuch Mein Leben (1963) über den Auslöser für Werfels Entschluss, den türkischen Genozid an den Armeniern während des 1. Weltkriegs wieder ins Bewusstsein der Welt zu bringen:
[…] wir atmeten auf, als wir in Damaskus einfuhren. Der Detektiv führte uns in alte großartige Moscheen, aber »es roch alles nach Sterblichkeit«. Zerfallen und grau war es. Und sehr schmutzig. Er führte uns in reiche Kaufhäuser und endlich in die größte Teppichweberei. Der Besitzer erschien und übernahm die Führung durch sein riesiges Etablissement. Wir gingen die Webstühle entlang, und überall fielen uns ausgehungerte Kinder auf, mit bleichen El Greco-Gesichtern und übergroßen dunklen Augen. Sie rollten auf dem Boden herum, hoben Spulen und Fäden auf, fegten wohl auch manchmal den Boden mit einem Besen rein. Franz Werfel frug den Besitzer, was das für merkwürdige Kinder seien. Er antwortete: »Ach, diese armen Geschöpfe, die klaube ich auf der Straße auf und gebe ihnen zehn Piaster pro Tag, damit sie nicht verhungern. Es sind die Kinder der von den Türken erschlagenen Armenier. Wenn ich sie hier nicht beherberge, verhungern sie, und niemand kümmert sich darum. Leisten können sie ja nicht das geringste, sie sind zu schwach dazu.« Franz Werfel und ich gingen tief betroffen weg, nichts wollte uns nun wichtig oder schön erscheinen.
Noch während der Reise skizzierte Werfel eine erste Romanidee, um nach der Rückkehr zwei Jahre lang akribisch die verfügbaren Quellen zum Völkermord an den Armeniern durch die jungtürkische Regierung zu studieren: Akten, die ihm ein befreundeter französischer Diplomat zugänglich machte, die Aufzeichnungen des deutschen Pastors und Orientalisten Dr. Johannes Lepsius, der bereits in den 1890er Jahren unter dem Eindruck von Armenierpogromen im Osmanischen Reich ein Hilfswerk für die Verfolgten gegründet hatte, und die Briefe, die der deutsche Sanitätsoffiziers Armin T. Wegner aus seinem Einsatz im Osmanischen Reich nach Hause geschrieben und 1919 unter dem Titel Der Weg ohne Heimkehr : ein Martyrium in Briefen veröffentlicht hatte.
Nach zwei Jahren akribischer Recherchen zur Geschichte, zur Bevölkerung, zur Topographie, zum Klima und sogar zum Wetter am Musa Dagh während der geschilderten Ereignisse arbeitete Werfel neun Monate lang an der Niederschrift seines fast 1000-seitigen Romans, dessen vierte und letzte Fassung im März 1933 fertiggestellt wurde.
Auf Drängen seiner geschäftstüchtigen Frau Alma Mahler-Werfel führt er in den ursprünglich eher dokumentarisch geplanten Roman einen fiktiven Helden ein, der sich nur sehr vage an den historischen Anführer der Armenier am Musa Dagh, Moses Der Kalousdian (1895-1984), anlehnt: Gabriel Bagradian, einen seit vielen Jahren in Frankreich lebenden und dort völlig assimilierten Armenier.
Bagradian kommt in Familienangelegenheiten mit seiner französischen Frau und dem gemeinsamen Sohn vorübergehend in die Heimat zurück. Wegen des Ausbruchs des Krieges sitzen die Bagradians plötzlich wider Willen in Gabriels Heimatdorf Yoghonoluk fest. Dass es mit einer schnellen Heimkehr nach Paris nichts wird, wird spätestens klar, als nicht nur die Reisepässe der Bagradians, sondern auch die Inlandspässe aller Dorfbewohner, so sie welche haben, eingezogen werden. Bagradian beschwert sich erfolglos bei den Behörden in Antakya. Er beschließt deshalb zunächst, auf dem Familiensitz das Ende des Krieges abzuwarten, unbemerkt und ungestört. Doch dann kommen die ersten Nachrichten von Deportationen und Massakern und die Bewohner der sieben Armenierdörfer entschließen sich zum Rückzug auf den Musa Dagh und zum Widerstand. Gabriel, der Reserveoffizier der osmanischen Armee, übernimmt die Führung.
Im weiteren Verlauf schildert der Roman ausführlich die wiederholten Angriffe der türkischen Armee und ihre Abwehr durch die Verteidiger, den täglichen Kampf ums Überleben, das Nachlassen der Kampfmoral der Verteidiger und Verrat in den eigenen Reihen; die zunehmende Identifikation des völlig verwestlichen Gabriel mit der armenischen Sache und die Rückkehr zu seinen Wurzeln; eheliche Untreue auf beiden Seiten; den Tod des Sohnes Stephan, der auf eigene Faust die Festung verlassen hat, von den Türken aufgegriffen und als Spion getötet wird …
Schließlich werden die Verteidiger von einem britisch-französischen Flottenverband gerettet. Doch der Roman endet nicht für alle mit einem Happy End: Gabriel bleibt unbemerkt als einziger auf dem Musa Dagh zurück. Er macht keine Anstalten, die ablegenden Schiffe auf sich aufmerksam zu machen, sondern begibt sich zum Grab seines Sohnes, wo er durch eine türkischen Kugel den Tod findet.
Im November 1933 erschien das Buch in zwei Bänden im Zsolnay-Verlag, Wien und Berlin, und wurde zu einem Bestseller – und in Nazideutschland u. a. auf erheblichen Druck der türkischen Regierung in Ankara im Februar 1934 verboten. Zudem war Werfel jüdischer Abstammung und seine Bücher allein schon deshalb in Deutschland verpönt. Werfel wurde aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen. Seine Bücher wanderten bis auf einige wenige Titel auf die schwarze Liste und wurden aus den Bibliotheken entfernt. 1935 wurde das Buch dann auch in der Türkei verboten. Eine geplante Verfilmung des Romans durch Metro-Goldwyn-Mayer unterblieb nach Interventionen des türkischen Botschafters in Washington.
Von der armenischen Diaspora im Westen wurde Werfel wie ein Held gefeiert, hatte er mit Die vierzig Tage des Musa Dagh doch gewissermaßen ein armenisches Nationalepos verfasst, in dem er ein heldenhaftes, historisches Kapitel aus der Zeit des Genozids an ihrem Volk schildert und fiktional überhöht.
Obwohl vor über 90 Jahren erschienen, ist der Roman auch heute noch gut lesbar. Eine Empfehlung für alle, die gerne ausschweifende historische oder zeitgeschichtliche Romane lesen.