Arno Geiger ist einer der wichtigsten österreichischen Schriftsteller der Gegenwart. Im Mittelpunkt seines im August erschienen Romans „Reise nach Laredo“ steht Kaiser Karl V., der sich nach seiner Abdankung in das Kloster Yuste in der spanischen Extremadura zurückgezogen hat. Kurz vor seinem Tod lässt Arno Geiger den von Krankheit Gezeichneten in Begleitung seines illegitimen Sohns Gerónimo, der nicht weiß, dass Karl sein Vater ist, auf eine letzte fiktive Reise an die kantabrische Küste aufbrechen.
Der Roman beginnt mit einer Szene, die gute Aussichten hat, wie die Geburt Jean-Baptiste Grenouilles in Patrick Süskinds „Das Parfum“ in die Literaturgeschichte einzugehen: Der emeritierte Kaiser wird gebadet – im Freien, vor den Augen seines kleinen Hofstaats, dessen Mitglieder es nicht erwarten können, dass er endlich das Zeitliche segnet, damit sie aus der spanischen Einöde in ihre Heimat zurückkehren können.
Nach dem Bad verwickelt Karl den elfjährigen Gerónimo in ein Gespräch, das mit der Aufforderung endet, mit ihm abzuhauen. Wie Jonas Jonassons Hundertjähriger, der aus dem Fenster stieg und verschwand, büxt der Alte aus, um noch einmal große Abenteuer zu erleben und nachzuholen, was er in seinem Leben versäumt hat.
Nach 49 Seiten Exposition erzählt Arno Geiger auf den folgenden 200 Seiten (insgesamt hat das Buch 272) eine irrwitzige Aventiure, eine abenteuerliche Heldenreise, die frei erfunden ist und auf der Arno Geiger den abgedankten Kaiser Dinge machen lässt, die ihm zeitlebens nie eingefallen wären oder aufgrund seines Standes verwehrt waren: Er freut sich am Umgang mit seinem illegitimen Sohn; er wählt als weitere Reisebegleiter ein Geschwisterpaar aus der diskriminierten Bevölkerungsgruppe der Cagots; er kehrt bei gemeinen Leuten ein und lernt die Lebensumstände der Landbevölkerung kennen; er verspielt die halbe Reisekasse beim Kartenspielen, tanzt ausgelassen und prügelt sich mit dem zwielichtigen Wirt seiner Herberge.
Die Route, die Arno Geiger den abgedankten Kaiser nehmen lässt, kehrt die tatsächliche letzte Reise im Leben Karls V., die von Laredo an der kantabrischen Küste an seinen Rückzugsort Yuste, um: Die abenteuerliche Reise von Karl und Gerónimo führt an den Ort zurück, wo Karl nach seiner Abdankung im Oktober 1555 zum letzten Mal spanischen Boden betrat, um das Land bis zu seinem Tod nicht mehr zu verlassen.
Auf der fiktiven Reise nach Laredo ist alles anders als auf dem Hinweg zwei Jahre zuvor: Das „Gefolge“ besteht nicht mehr aus 150 Höflingen, Soldaten, Knechten und Mägden, sondern nur noch aus seinem illegitimen Sohn und den beiden Cagots; Karl lässt sich nicht in einer Sänfte tragen, sondern reitet auf einem Maultier oder fährt auf einem strohbedeckten Fuhrwerk mit; er reist inkognito und wird auf den Stationen seiner Reise nicht mehr überall mit Pomp empfangen.
Was die kleine Truppe an Abenteuern erlebt, wird nicht verraten, nur so viel: In einer sterbenden Stadt in der Sierra, wo wegen des billigeren importierten Silbers aus Südamerika die Silberminen längst geschlossen wurden, hält der Wirt ihrer Herberge in seinem Hof einen leibhaftigen Greif! Spätestens an dieser Stelle wird dem Leser klar, dass die Reise imaginiert ist.
Die Schilderung der Reise, auf der Karl noch einmal sein Leben rekapituliert und den Frieden mit sich selber macht, endet mit der Ankunft am Strand von Laredo, wo er und Gerónimo sich in die Brandung stürzen und miteinander im Wasser toben.
Der Roman endet, wie er begonnen hat: mit einer Wäsche. Diesmal ist es die Leichenwäsche Karls, der am Ende seines Traums von einer letzten Reise nach Laredo gestorben ist. Und noch bevor er beigesetzt ist, beginnt sich sein kleiner Hofstaat langsam aufzulösen.
Warum man das Buch lesen sollte? Es behandelt mit dem Loslassen und dem Mit-sich-ins-Reine-Kommen ein zeitloses Thema; es besticht durch eine bildhafte Sprache, naturalistische Beschreibungen und ironische Dialoge; es vereint Elemente des historischen Romans, der mittelalterlichen Aventiure, also der Heldenreise, und der Lebensbetrachtung und es ist voller literarischer Anspielungen, nicht nur auf Cervantes Don Quijote. An manchen Stellen fühlt man sich auch an Grimmelshausens Simplicissimus und an Eichendorffs Taugenichts erinnert.
Die Jury der SWR-Bestenliste hat „Reise nach Laredo“ im Oktober auf Platz 6 gewählt. Zurecht, wie ich finde.
Michael Steffel