/ Bernhard Schlink. - Zürich : Diogenes, 2021. - 368 Seiten
ISBN 978-3-257-07181-8
Auch für den neuesten Roman von Bernhard Schlink bildet ein Kapitel der neueren deutschen Geschichte den Rahmen, der sich von der Teilung Deutschlands, über die Wiedervereinigung bis zum Ende der 2010er Jahre erstreckt.
Der 20-jährige Geschichtsstudent Kaspar aus West-Berlin nimmt an Pfingsten 1964 am Deutschlandtreffen der Jugend im Ost-Teil der Stadt teil. Viele junge Leute aus dem Westen kommen, um die DDR mit eigenen Augen zu erleben und mit den jungen DDR-Bürgern ins Gespräch zu kommen. Es beginnen Wochen der Hoffnung auf eine offenere Gesellschaft, was sich jedoch bald als Illusion herausstellen wird.
Kaspar trifft dort auf Birgit; die ist ebenfalls Studentin, hat aber von ihrem FDJ-Sekretär Instruktionen bekommen, wie man mit Westdeutschen diskutiert. Doch bald spielt die Politik keine Rolle mehr. Kaspar verliebt sich in die eloquente Birgit und verhilft ihr schließlich zur Flucht. Im Westen heiraten sie, Kaspar gibt sein Studium auf und wird Buchhändler. Ein Beruf, der ihn bis ins Alter erfüllt.
Anders ergeht es Birgit: Sie fühlt sich im Westen nie angekommen, versucht sich in unterschiedlichen Berufen und verfällt schließlich dem Alkohol. Was Kaspar nicht ahnt ist, dass seine Frau an einer Autobiographie schreibt, um ihre Geheimnisse und Lebenslügen zu verarbeiten. Davon erfährt er allerdings erst, nachdem er sie eines Abends tot in der Badewanne findet: Birgit war bei ihrem Kennenlernen bereits schwanger und hat das Kind -eine Tochter - in der DDR zurückgelassen. Im Bewusstsein, einen großen Fehler begangen zu haben, hatte Birgit vor, ihre Tochter zu suchen und sich ihr mit allem was sie ist und hat „anzubieten“.
Tief bewegt von den unerkannten Nöten seiner Frau will der Witwer ihr Vorhaben zu Ende bringen. Und tatsächlich findet er Svenja, mittlerweile eine Frau um die 50, mit Mann und der Tochter Sigrun in einer völkischen Siedlung in Brandenburg. Die Siedler träumen davon, alle Höfe in der Umgebung aufzukaufen, um autark und in Abgrenzung zu allen Andersdenkenden zu leben.
Gegen viel Geld erwirkt Kaspar bei den Eltern ein Besuchsrecht der 14-jährigen und ist fest entschlossen, dem neugierigen und wissenshungrigen Mädchen ein anderes Weltbild als das der rechtsextremen und fremdenfeindlichen Siedlergemeinschaft zu eröffnen. Mit viel Geduld und mit Hilfe von Reisen, Musik und Literatur versucht er mit Sigrun ins Gespräch zu kommen und ihre Feindschaft gegenüber der Gesellschaft zu überwinden.
Der Autor Bernhard Schlink, geboren 1944 bei Bielefeld, ist Jurist und lebt in Berlin und New York. Der 1995 erschienene Roman „Der Vorleser“ wurde in über 50 Sprachen übersetzt und begründete seinen schriftstellerischen Weltruhm.
Seine Romanfigur Kaspar in „Die Enkelin“ weist neben dem gleichen Geburtsjahr weitere Gemeinsamkeiten mit dem Autor auf: Auch Bernhard Schlink diskutierte 1964 bei der Pfingstveranstaltung mit, auch er verliebte sich in eine DDR-Bürgerin und verhalf ihr zur Flucht.
Sabine Fürst