Buchtipp für Erwachsene Oktober 2015

Mario Vargas Llosa: Ein diskreter Held

Roman. - Berlin : Suhrkamp, 2013. - 380 S.
ISBN 978-3-518-42400-1 fest geb. : EUR 22.95

(© Suhrkamp)

Die Romane Mario Vargas Llosas, vor allem seine frühen, wirken wegen ihrer schweren Lesbarkeit auf viele LeserInnen einschüchternd. Gründe für diese schwere Lesbarkeit sind zum einen Vargas Llosas anspruchsvolles literarisches Konzept der novela total, zum anderen seine komplizierten literarischen Techniken, die als muñecas rusas, vasos comunicantes und diálogo telescópico in die Literaturwissenschaft eingegangen sind.

 

Das Konzepts der novela total verfolgt ein ehrgeiziges Ziel: Der Roman soll alle Aspekte der Wirklichkeit und alle sozialen Schichten umfassen und dabei auch noch den Unterschied zwischen Realität und Phantasie aufheben; d. h. die novela total strebt einerseits nach einem totalen Realismus, der alle Schichten sowohl der sozialen, politischen und ökonomischen Realität umfasst, andererseits bezieht sie die Welt von Mythos, Magie und Traum mit ein.

 

Auch sein jüngster Roman Ein diskreter Held enthält die bereits genannten typischen literarischen Techniken und Elemente der novela total, allerdings nicht in dem ungezügelten und für den Leser oft verwirrenden Übermaß früherer Romane. Er ist deshalb, so der Rezensent des Romans in der Süddeutschen Zeitung, „leichter […], zugänglicher, gut verdaulich.“ Damit eignet er sich vortrefflich als Einstieg in die Lektüre von Vargas Llosas Werk.

 

Ein diskreter Held erzählt in zwei Handlungssträngen die Geschichte nicht nur eines, wie der Titel suggeriert, sondern gleich zweier Helden wider Willen: des Fuhrunternehmers Felícito Yanaqué und des Versicherungsdirektors Don Rigoberto.

 

Felícito Yanaqué ist Inhaber eines Bus- und Fuhrunternehmens in der nordperuanischen Stadt Piura. Seine ganze Liebe gilt drei Dingen: seiner mit eigenen Händen aufgebauten Firma, seiner Geliebten Mabel und seinem verstorbenen Vater, einem analphabetischen Tagelöhner, der ihn in größtem Elend allein aufgezogen hat. Das einzige Vermächtnis, das der arme Teufel seinem Sohn hinterlassen konnte, war die Aufforderung: „Lass dich niemals von irgendwem rumschubsen, mein Sohn!“ Als Felícito eines Tages einen Erpresserbrief erhält, denkt er deshalb auch keine Sekunde daran, das geforderte Schutzgeld zu bezahlen.            

 

Don Rigoberto, Generaldirektor eines Versicherungsunternehmens in Lima, hat sich vorzeitig pensionieren lassen, um sich endlich nur noch seiner Liebe für die europäische Musik, Kunst und Literatur zu widmen. Mit seiner Frau Lucrecia und dem 15-jährigen Sohn Fonchito plant er eine Kulturreise nach Europa. Davor übernimmt er allerdings noch einen Freundschaftsdienst für seinen ehemaligen Chef und Freund Ismael Carrera, der mit über 80 völlig unstandesgemäß eine halb so alte chola, nämlich sein Hausmädchen Armida, heiratet, und übernimmt die Trauzeugenschaft. Ismael treiben zwei Motive zu dieser Ehe: Zum einen liebt er Armida, zum anderen kann er damit seinen beiden missratenen Zwillingssöhnen Miki und Schlaks, die ihr Erbe gar nicht erwarten können, eins auswischen. Während sich die frisch Verheirateten auf Hochzeitsreise begeben, wird Rigoberto von Ismaels um ihr Erbe fürchtenden Söhnen bedrängt, sie dabei zu unterstützen, ihren Vater für unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Rigoberto lässt sich von den verrufenen Zwillingen weder bestechen noch einschüchtern und wird deshalb von den beiden in einen Rechtstreit verwickelt, der seine Pläne für den Ruhestand zuerst einmal zunichtemacht.

 

Felícito ignoriert auch einen zweiten Erpresserbrief, woraufhin seine Büroräume angezündet werden. Er lässt sich aber nicht einschüchtern, im Gegenteil: Er geht in die Öffentlichkeit und verkündet in einer Zeitungsanzeige, dass er unter keinen Umständen Schutzgeld zahlen werde. Diese Anzeige macht Felícito über Nacht zum Helden in Piura. Als dann aber seine Geliebte Mabel entführt wird, knickt er schließlich ein und verspricht die Schutzgeldzahlungen. Mabel wird daraufhin unversehrt freigelassen. In Befragungen verwickelt sie sich sehr schnell in Widersprüche und gesteht schließlich, dass die Entführung fingiert war. Als Erpresser entpuppt sich Felícitos eigener Sohn Miguel, der seinen Vater hasst und ebenfalls ein Verhältnis mit Mabel hat.

 

Don Rigoberto macht sich inzwischen Sorgen um seinen Sohn Fonchito, der von regelmäßigen Begegnungen mit einem älteren Mann namens Edilberto Torres berichtet. Die Eltern vermuten dahinter zuerst einen Pädophilen, dann ein Hirngespinst des Pubertierenden. Unter dem Einfluss der Lektüre von Thomas Manns Doktor Faustus fürchtet Don Rigoberto, eigentlich eingefleischter Atheist, am Ende sogar, bei den Erscheinungen handle sich um den Leibhaftigen. Kurz darauf kehren Ismael und Armida von ihrer Hochzeitsreise zurück, doch Ismael stirbt an einem Herzinfarkt, bevor er seine Erbangelegenheiten regeln kann. Seine Söhne setzen daraufhin seine Witwe Armida wegen des Erbes unter Druck. Sie flieht aus Lima in ihre Heimatstadt Piura zu ihrer Schwester Gertrudis, die keine andere ist als Felícitos ungeliebte Ehefrau. Damit finden die beiden Handlungsstränge des Romans zueinander.

 

Am Ende wird alles gut: Felícito trennt sich von Mabel und versöhnt sich mit seiner Frau, die ihm gestanden hat, dass Miguel gar nicht von ihm stammt, sondern ein Kuckuckskind ist. Gertrudis wurde als Minderjährige von ihrer eigenen Mutter zur Prostitution gezwungen, und als sie schwanger wurde, hat ihre Mutter das Kind Felícito untergeschoben und ihn zur Heirat gezwungen. Armida einigt sich mit den Söhnen Ismaels aus erster Ehe über das Erbe und auch Don Rigoberto kann endlich seine lang ersehnte Bildungsreise nach Europa antreten. Und last but not least scheinen sich auch Fonchitos Erscheinungen in Luft aufgelöst zu haben, wenn sie nicht ohnehin von dem aufgeweckten Bürschchen erschwindelt waren.

 

Getreu dem Konzept der novela total kommen die Personen des Romans aus allen Schichten: Ismael Carrera und Don Rigoberto repräsentieren die reiche, weiße Oberschicht Limas mit ihrer starken Bindung an die europäische Kultur, der cholo Felícito Yanaqué steht für die Mestizen, die es aus armseligsten Verhältnissen mit viel Fleiß zu bescheidenem Wohlstand gebracht haben. Es fehlen nicht der blinde Bettler und mit Felícitos verstorbenem Vater der analphabetische cholo und Tagelöhner ohne Schuhe auf der untersten sozialen Stufe, die Hausmädchen besserer Leute (Armida, die Hausmädchen Don Rigobertos und der Yanaqués), die heimlichen Geliebten (Mabel) und Vertreter der schwarzen und der asiatischen Minderheit in Gestalt von Ismael Carreras treuem Chauffeur Narciso und des längst verstorbenen chinesischen Krämers Lau, an den sich Felícito immer wieder zurückerinnert. Dazu – nicht zu vergessen – lethargische Polizisten, ein links angehauchter Armenpriester, eine Wahrsagerin und, und, und … Man könnte die Liste noch lange fortsetzen. Und wie es sich für einen Vertreter des lateinamerikanischen Magischen Realismus gehört, verbindet Mario Vargas Llosa in Ein diskreter Held einen die peruanische Alltagswirklichkeit detailliert schildernden Realismus mit dem Übernatürlichen: Felícito sucht regelmäßig eine Wahrsagerin auf, Don Rigobertos Sohn Fonchito erscheint regelmäßig ein Unbekannter, den andere nicht sehen.

Fazit: Ein farbiger, die Lebenswirklichkeit Perus in zahlreichen Facetten widerspiegelnder Roman, der sich hervorragend als Einstieg für alle eignet, die sich an Mario Vargas Llosa bisher nicht herangetraut haben, und eine gute Einführung in seine speziellen Erzähltechniken, ohne wie so mancher frühere Roman von ihm, so formuliert es Ralph Hammerthaler in der Süddeutschen Zeitung, „eine totale, aber lustvolle Überforderung für den Autor ebenso wie für den Leser [zu sein]“.

 

Michael Steffel