Buchtipp für Erwachsene November 2015

Paolo Giordano: Der menschliche Körper : Roman

Reinbek bei Hamburg : Rowohlt, 2014. - 411 S.
ISBN 978-3-498-02525-0 fest geb. : EUR 19.95 (auch als Taschenbuch erhältlich, ISBN 978-3-499-25508-3 : EUR 10.99)

(© Rowohlt)

2008 erregte ein damals 25 Jahre alter Teilchenphysiker mit seinem Erstlingsroman Aufmerksamkeit – zuerst in seiner Heimat Italien, dann weltweit. Sein Name: Paolo Giordano, der sperrige Titel des Buchs: Die Einsamkeit der Primzahlen. Am Ende des Jahres war der Roman das meistverkaufte Buch Italiens und erhielt mit dem Premio Strega den wichtigsten Literaturpreis des Landes.

 

2012 legte Giordano mit einem zweiten Roman nach, der letztes Jahr unter dem Titel Der menschliche Körper auch in deutscher Übersetzung erschien.

 

Worum es in diesem Buch geht, wird bereits im Prolog deutlich, in dem drei Personen des Romans, der Militärarzt Dr. Egitto, ein Oberst namens Ballesio und René, ein Ex-Feldwebel, am Rande einer Militärparade zusammentreffen. Die drei verbindet ein gemeinsamer Auslandseinsatz in Afghanistan, bei dem sie etwas Schreckliches erlebt haben müssen, das jeder auf seine Art zu verarbeiten versucht.

 

Was das war, erzählt der Roman dann im zweiten von insgesamt drei Teilen. Im ersten Teil passiert recht wenig: Er schildert vor allem die Langeweile des Lagerlebens einer italienischen Einheit auf einem vorgeschobenen Posten im Gulistan-Tal. Es geht um den Trott des Dienstes, die alltäglichen Konflikte zwischen den auf engem Raum zusammengepferchten Soldaten bis hin zum Mobbing. Es geht aber auch um das frühere Leben und den Charakter der Soldaten, die im zweiten Teil des Romans dann gemeinsam das erleben, an dem sie den Rest ihres Lebens zu tragen haben werden. Nur einmal unterbricht ein nächtlicher Beschuss des Lagers durch den Feind die Routine des Lageralltags.

 

Es ist eine bunte Mischung, aus der die Einheit besteht: Dr. Egitto, der Truppenarzt, kann ohne ein starkes Psychopharmakon weder seine familiäre Vergangenheit noch die Gegenwart ertragen. Feldwebel René hat in Italien als Callboy seinen Sold aufgebessert und kurz vor seinem Einsatz in Afghanistan eine seiner Kundinnen geschwängert, erweist sich aber als verantwortungsvoller Vorgesetzter. Ein Macho nimmt ein Muttersöhnchen unter seine Fittiche, um einen richtigen Soldaten aus ihm zu machen, demütigt ihn aber zugleich mit schöner Regelmäßigkeit. Ein Familienvater sorgt sich um seinen kleinen Sohn, eine Soldatin will es ihrem ausschließlich männlichen Umfeld beweisen und einer ist das „Opfer“ und ständiges Ziel derber Soldatenscherze.

 

Dass sich etwas zusammenbraut und die Geschichte auf eine Katastrophe zusteuert, wird dem Leser spätestens auf Seite 194 klar. Da beginnt nämlich ein neues Kapitel mit der drohenden Überschrift Letzte Nachrichten von Salvatore Camporesi. Kurz darauf kommt dann der eigentliche Wendepunkt: Am Rand des Lagers warten seit Wochen afghanische Fahrer mit ihren LKWs auf eine Möglichkeit, in eine sichere Zone des Landes zurückzukehren. Als einer von ihnen die Fahrt durch Feindesland auf eigene Faust wagt, wird wenige Tage später sein Kopf in das Lager der Fahrer geworfen. Die anderen Fahrer fordern daraufhin militärischen Geleitschutz für ihre Rückfahrt, der ihnen schließlich zugestanden wird.

 

Der zweite Teil des Romans schildert dann die Katastrophe: Die Soldaten, die der Leser im ersten Teil des Romans kennengelernt hat und die die Nachhut des Konvois bilden, verlieren durch das Festfahren eines ihrer Fahrzeuge in einem tiefen Loch den Anschluss an den Rest und geraten in einen Hinterhalt. Fünf Angehörige des Zugs sterben, einer wird lebensgefährlich verletzt. Nur das Eingreifen von Kampfhubschraubern verhindert noch mehr Opfer.

 

Der dritte Teil greift den Prolog wieder auf und schildert, wie die überlebenden Soldaten wieder ins Leben zurückfinden – oder auch nicht. Er erzählt von ihren ganz unterschiedlichen psychischen und physischen Reaktionen auf das Erlebte – von nackter Wut, die sich in der Vergewaltigung einer Masseuse Bahn bricht, bis zu Schuldgefühlen der Überlebenden gegenüber den Gefallenen und ihren Angehörigen.

 

Was mir neben dem drastischen Realismus der Schilderung am meisten gefallen hat, ist der ständige Perspektivenwechsel: Auch wenn Dr. Egitto und seine Reflexionen und Erinnerungen einen breiteren Raum einnehmen als andere Personen, gibt es keinen wirklichen Protagonisten. Die Ereignisse werden vielmehr aus der Perspektive vieler verschiedener Personen und in ganz unterschiedlichen Formen erzählt – bis hin zum Mailverkehr zwischen dem später gefallenen Soldaten Camporesi und seiner Frau. Diese Vielstimmigkeit und Vielfalt der Formen machen den Roman ungemein abwechslungsreich, auch wenn die große Anzahl an Personen und Perspektiven zumindest am Anfang eine Herausforderung für den Leser sind.

 

Alles in allem ein packendes Buch darüber, was der Krieg aus Menschen macht, wie er sie verändert und traumatisiert zurücklässt.

 

Michael Steffel