Buchtipp für Erwachsene Juni 2017

Isabelle Lehn: Binde zwei Vögel zusammen

Roman. - Köln : Eichborn, 2016. - 188 Seiten
ISBN 978-3-8479-0612-4 fest geb. : EUR 18.00

(© Eichborn)

Den Schubart-Literaturförderpreis des Jahres 2017 erhielt Isabelle Lehn für ihr Romandebüt „Binde zwei Vögel zusammen“. Der Titel des Buchs ist der Anfang eines Aphorismus‘ des persischen Mystikers und Dichters Rumi (1207-1273), der im Volltext lautet: „Binde zwei Vögel zusammen; sie werden nicht fliegen können, obwohl sie nun vier Flügel haben.“
Albert Jacobi, ein freier Journalist, der sich finanziell gerade einmal so über Wasser halten kann, hat für sechs Wochen als Darsteller in einem Ausbildungscamp für ISAF-Soldaten in der Oberpfalz angeheuert; zum einen, um seine Kasse aufzubessern, zum anderen, um Stoff für eine Reportage über die Vorbereitung von Soldaten auf einen Auslandseinsatz zu sammeln. Wie alle anderen Darsteller der Dorfbewohner hat auch Albert in den sechs Wochen keinerlei Kontakt zur Außenwelt.
Albert mimt in dem Camp den afghanischen Kaffeehausbesitzer Aladdin. Die Ausbildung ist sehr wirklichkeitsnah: Alle Darsteller müssen ein Sensorgeschirr am Körper tragen und können dank dieser Apparatur auch virtuell erschossen werden, wenn sie sich zur falschen Zeit draußen bewegen. Auch die sozialen Verhältnisse in einem von deutschen Soldaten bewachten afghanischen Dorf werden genauestens simuliert.
Nach seiner Rückkehr aus der Oberpfalz findet Albert nicht mehr so richtig in sein früheres Leben zurück. Er schafft es weder, das Erlebte wie geplant zu einer Reportage zu verarbeiten, noch die Beziehung mit seiner beruflich erfolgreicheren Freundin wieder aufzubauen. Es kommt aber noch schlimmer: Wirklichkeit, militärische Übung und seine Identitäten als Albert und Aladdin fangen an, sich zu vermischen. Er entwickelt schizoide Züge: Albert beginnt, sein Alter-Ego Aladdin im wahren Leben zu sehen und mutiert in schizophrenen Momenten sogar selbst zu Aladdin. Das geht so weit, dass Albert die Rolle, die er im Lager gespielt hat, zur Biographie eines Afghanistanflüchtlings ausspinnt – bis hin zum Asylantrag in Deutschland.
Aber nicht nur für Albert vermischen sich die Ebenen, sondern auch für den Leser. Die Verwirrung Alberts überträgt sich nämlich schnell auf den, der das Buch liest. Das macht die Lektüre nicht ganz einfach. Mir ging es jedenfalls so. Ich habe beim Lesen mehrfach die Orientierung verloren und wusste nicht mehr, in welcher Rolle Albert gerade steckt. Dass sich im Roman nicht nur die Rollen, sondern auch die gegenwärtig erzählte Zeit und Rückblenden mischen, erschwert die Lektüre zudem. Das ist von Isabelle Lehn sicher so beabsichtigt, zwingt aber zu einem sehr aufmerksamen und konzentrierten Lesen.
Einen Gegenpol dazu bilden längere Passagen, in denen wichtige Ereignisse und Nachrichten des Jahres 2014 referiert werden und sich der Leser wieder auf festem Grund bewegt, weil wir uns alle noch daran erinnern: vom Empfang der deutschen Fußball-Weltmeistermannschaft in Berlin über die Ebola-Seuche in Westafrika bis zum Abschuss von Flug MH 17 über der Ostukraine. Die Autorin schafft damit einen Wechsel zwischen Fakten und damit Gewissheit einerseits und Ungewissheit andererseits.

Ein inhaltlich sehr aktuelles Buch, aber eher etwas für politisch und zeitgeschichtlich interessierte und vor allem sehr geübte und aufmerksame Leserinnen und Leser.

Der mit Aladin zusammengebundene Vogel Albert verliert, um auf den Titel zurückzukommen, seine Flugfähigkeit: Er bekommt die Kurve in sein altes Leben nicht mehr. Als er sein Scheitern als Journalist erkennen muss und seine Freundin für eine neue Stelle in eine andere Stadt zieht, heuert er als Darsteller bei einem neuen Ausbildungsprogramm an: In seiner neuen Rolle soll er einen Flüchtling spielen, der versucht, illegal über die Grenze nach Deutschland zu kommen. Er sucht also Zuflucht in einem neuen Rollenspiel, weil er mit der Wirklichkeit nicht mehr zurechtkommt.

 

Michael Steffel, Stadtbibliothek im Torhaus