Buchtipp für Erwachsene Juni 2016

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen

München : Knaus, 2015. - 244 S.
ISBN 978-3-8135-0370-8 fest geb. : EUR 19.99

(© Knaus)

Von Oktober 2012 bis April 2014 gab es auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg ein Protestcamp afrikanischer Flüchtlinge, die damit auf ihre verzweifelte Lage  aufmerksam machen wollten. Sie protestierten damit gegen die Gesetze, die vielen Asylsuchenden die Möglichkeit auf ein menschenwürdiges Leben verstellen: von der Residenzpflicht über das Arbeitsverbot bis zum jahrelangen Warten auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag.

Dieses Camp ist der Ausgangspunkt von Jenny Erpenbecks neuem Roman „Gehen, ging, gegangen“, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2015 stand und für den sie jüngst den Walter-Hasenclever-Literaturpreis zugesprochen bekommen hat.

Die zentrale Frage in diesem Tatsachenroman lautet: „Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll?“

Zum Inhalt:
Richard, Altphilologe, ist frisch emeritiert und seit einigen Jahren verwitwet. Auch seine Geliebte hat ihn unlängst verlassen. Als Richard von dem Protestcamp hört, beschließt er – ganz Wissenschaftler – ein „Projekt“: Er will mit den Flüchtlingen in Kontakt kommen und sie interviewen. Er informiert sich über die Herkunftsländer der Flüchtlinge, über geografische und politische Hintergründe und formuliert akribisch Fragen, die er den Flüchtlingen stellen möchte. Dann nimmt in einem Heim Kontakt zu ihnen auf und führt mit ihnen Gespräche. Schon bald darauf unterrichte er zwei von ihnen in Deutsch, begleitet andere bei kafkaesken Behördengängen, lädt einen zu sich nach Hause ein, damit er dort Klavierspielen lernen kann und verschafft einem anderen vertretungsweise einen Pflegejob in der Familie von Freunden. Allmählich öffnen sich die Flüchtlinge und erzählen ihm ihre erschütternden Lebensgeschichten. Als die meisten der ehemaligen Aktivisten vom Oranienplatz, mit denen er in Kontakt ist, abgeschoben werden sollen, nehmen er und Menschen in seinem persönlichen Umfeld diese teilweise bei sich auf und gewähren ihnen Unterschlupf. Richard, der weltfremde alte Professor, wird vom Beobachter zum aktiven Helfer.

Es stellt sich natürlich die Frage: Was haben ein gerade emeritierter Altphilologe, (ostdeutscher) Bildungsbürger – um nicht zu sagen weltfremder „Elfenbeinturmbewohner“ – und (nach dem Tod seiner Frau) halber Eremit und geduldete Flüchtlinge gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Und doch mehr als am denkt:

Beide Seiten stehen vor der Frage, wie sie mit einem biografischen Einschnitt und einer nicht enden wollenden Übergangszeit fertig werden können. Sie verbindet die Langeweile, das Warten und das Phänomen des Zu-viel-Zeit-Habens. Dazu kommt auf beiden Seiten der Verlust dessen, was einem wichtig war und was man geliebt hat: Arbeit, Frau und Geliebte, Familie, Heimat.

Mit „Gehen, ging, gegangen“ hat die Trägerin der Schubart-Literaturpreises 2013 eine fiktionale Welt geschaffen, die uns mehr von der Wirklichkeit erzählt als die Medien mit Berichten, Reportagen, Kommentaren und Leitartikeln. Sie schaut hinter die reinen Flüchtlingszahlen auf die Einzelschicksale und gibt den Schutzsuchenden ein Gesicht, eine Geschichte und damit ihre Würde wieder. Der Roman ist keine Literatur um der Literatur willen, sondern „ein brisantes Konglomerat aus Gesellschaftskritik, Zeitgeschichte, Milieustudie und Sozialreportage“ (NZZ, 10.10.2015) und ein gutes Beispiel für engagierte Literatur. Dass der Roman in weiten Teilen auf den wirklichen Geschichten von Flüchtlingen und zahlreichen persönlichen Begegnungen Jenny Erpenbecks mit ihnen beruht, das macht ihn außerordentlich authentisch. Dass er außerdem sprachlich und kompositorisch auf höchstem Niveau ist, versteht sich bei Jenny Erpenbeck eigentlich von selbst.

Michael Steffel
Stadtbibliothek Aalen